
Dazu bedarf es nicht unbedingt eines tatsächlichen tragischen Lebenslaufes; Künstlernaturen neigen generell zu einem Dasein zwischen Brandbeschleuniger und Brennglas. Das gilt umso mehr für jemanden mit einer Vita wie der Alexander Skrjabins: Kurz, emotional überbordend und vor allem schmerzhaft, da er, wie es MIR-Chefin Tatjana Lukina formuliert, “sein ganzes Leben sehr intensiv mit dem Tod konfrontiert war”.
Seine Mutter starb, als er ein Jahr alt war, zwei von vier Kindern aus erster Ehe starben noch zu Lebzeiten des Komponisten. Schwierig gestaltete sich auch sein Liebesleben: Seine erste Ehe scheiterte, Ehefrau Wera verweigerte jedoch die Scheidung, so dass er mit seiner neuen Gefährtin, Tatjana Schloezer, eine Lebensgemeinschaft ohne Trauschein beginnen musste, ein für damalige Verhältnisse nicht gerade gesellschaftlich übliches Arrangement …
“Einmal beunruhige ich mich, ein andermal bin ich auf der Höhe der Seligkeit, in Minuten falle ich in Schwermut,” zitiert ihn Stefan Zednik in Deutschlandradio Kultur. Er war ein Getriebener, was ihn vermutlich auch zu dem werden ließ, was Zednik einleitend als “Revolutionär einer neuen Tontechnik” , so der Beitragstitel, beschreibt und als “… absoluter Exzentriker in der Welt der Klaviermusik. Seine Werke zählen nicht nur zu dem pianistisch anspruchsvollen, sie begeistern auch heute noch durch ihre Emotionalität, ihre Radikalität, ihre Wucht.”


Bemerkendwert an Skrjabins Werk finde ich dessen rasante stilistische Weiterentwicklung, geprägt durch die anbrechende Ära von Industrialisierung und Urbanisierung im Zeitraffer. Erinnerten mich eben noch die Klänge an die romantisch verklärten Salons eines Frédéric Chopin, so fühlte ich mich beim nächsten Stück schon in die “Symphonie einer Großstadt” katapultiert … In einem Beitrag auf Anthro-Wiki heißt es: “Sein Spätwerk zeigt eine stilistische Entwicklung auf, die – trotz seines kurzen Lebens – eine Einreihung Skrjabins in die wichtigen Neuerer der Musik der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts rechtfertigt.”

Über Skrjabins vielleicht berühmtestes Werk Poème de l’extase, aus seiner späteren Schaffensphase, schreibt der amerikanische Autor Henry Miller: “Es war wie ein Eisbad. Kokain und Regenbögen. Wochenlang ging ich umher wie in Trance”.

“Poème de l’extase” – Skrjabins vielleicht erfolgreichste Komposition, Thema zahlloser Schallplatten-Produktionen
Dem Werk liegt ein Textfragment zugrunde, das Skrjabin eine Weile bei Aufführung seiner gleichnamigen Komposition austeilen ließ. Dem Symbolismus nahestehend, schildert es (das Gedicht; Quelle: Wikipedia) Auseinandersetzungen des für Freiheit und Liebe eintretenden, schöpferischen Geistes mit Schreckensgestalten, dann – zunehmend in direkter Rede – die Rolle des “Ich”, durch welches die gesamte Menschheit in Ekstase erlöst wird. Anfang und Schluss lauten in deutscher Übersetzung:
- Der Geist,
- Vom Lebensdurst beflügelt,
- Schwingt sich auf zum kühnen Flug
- […]
- Und es hallte das Weltall
- Vom freudigen Rufe
- Ich bin !
Hörprobe “Poème de l’extase” – Berliner Philharmoniker/Petrenko

Alexander Skrjabins Grab liegt auf dem Nowodewitschi-Friedhof in Moskau. Hier sind viele prominente Bürger und Künstler begraben.
“Ich bin ein Nichts, ein Spiel, bin Freiheit, bin das Leben. Ich bin eine Grenze, ein Gipfel. Ich bin Gott.” (Zitat Skrjabin)
Im Frühjahr 1915 durchkreuzte eine Blutvergiftung, die Skrjabin sich wegen eines Abszesses auf der Oberlippe zuzog, alle seine Pläne in Indien. Er starb mit noch nicht einmal 43 Jahren …
Zum 100. Todesjahr bestritt in der Seidlvilla nun ein indischer Klavier-Virtuose, Pervez Mody, bravourös den gesamten zweiten Teil des Konzertes und schlug eine Brücke zwischen Gedenkabend und der letzten Schaffensphase des russischen Komponisten.
“Ein sprühender Virtuose und ausdrucksstarker Künstler mit breitem Repertoire, der mit seinen Aufnahmen zu den ersten Skrjabin-Interpreten unserer Zeit eingereiht wird,” urteilt das Label Thorofon über Mody, der aus Mumbai stammt, in Moskau und Karlsruhe studierte und mittlererweile in Deutschland lebt.



Die Akteure des Abends: Philipp von Morgen, Tatjana Lukina (MIR), Artur Medvedev, Alexej Kudryashov, Jekaterina Medvedeva, Pervez Mody, (von links) – Seidlvilla, 22.10.2015
Diese Veranstaltung hat mir einmal mehr Augen geführt, dass es immer wieder neue Preziosen in der Welt von Kunst und Kultur aufzusammeln gibt, selbst wenn man wie ich schon fast ein halbes Leben damit befasst ist. Man muss sich als Zuschauer/In nur trauen, sich auch auf bis dato unbekannte Künstler und deren Werke einzulassen, die im riesigen Künstler-Universum nur darauf warten, von jeder und jedem von uns entdeckt zu werden.
Vorschau: M0, 30. November , 19.00 Uhr, Carl-Orff-Saal, Gasteig Zeit, vorwärts! – Der Komponist Georgij Swiridow (1915-1996)
Gala-Konzert zum 100. Geburtstag von Georgij Swiridow, einem der größten Komponisten Russlands des 20. Jahrhunderts und Schüler von Dmitri Schostakowitsch.
Swiridow war dem russischen Volkslied besonders eng verbunden. Seine Kompositionen, zu denen Orchesterwerke, Kammer- und Klaviermusik, Chöre und Lieder gehören, haben ihre Wurzeln in der russischen Musik des 19. Jahrhunderts und genießen in Russland große Popularität. Allein schon seine Orchestersuite „Der Schneesturm“ nach Alexander Puschkins gleichnamiger Novelle, macht Swiridow für die russische Kultur unentbehrlich.
Ein kurzes Segment seiner Filmmusik zu dem Film „Zeit, vorwärts!“ (Время, вперёд!) begleitet die Russen seit einem halben Jahrhundert, Abend für Abend, als Erkennungsmelodie der bekannten TV-Nachrichtensendung Wremja (Zeit).
Das MIR-Herbstprogramm als pdf
Zum Verzeichnis aller Blog-Beiträge, mit jeweiligem Link
[…] Ich bin ganz Verlangen, ganz Gefüsausbruch […]
[…] Maxim Gorki, zum 100sten:„Der Mensch, das klingt stolz“ Die runden Ecken der Balalaika: 25 Jahre MIR Komponist Georgi Swiridow: Der Ewigkeit verpflichtet Komponist Alexander Skrjabin: Ich bin ganz Verlangen, ganz Gefühlsausbruch […]